Der Fachkräftemangel ist und bleibt die grösste Herausforderung für die Wirtschaft im Berner Oberland. Dieser Mangel sei teilweise hausgemacht, sagte Wirtschaftsprofessor Mathias Binswanger in seiner Rede am Wirtschaftstreffen Berner Oberland in Thun nach der Eröffnungsrede durch Nationalrat Albert Rösti. Binswanger plädierte dafür, den Lehrlingen ihren Berufsstolz zurückzugeben. Gian Marco Maier von den Kraftwerken Oberhasli AG und Selina Davatz von Buchs & Grossen Elektroplan sprachen über die aktuelle Energiesituation in der Schweiz und was KMU unternehmen können, um sparsam durch den Winter zu kommen.
Als Vorstandsmitglied der Volkswirtschaft Berner Oberland und als offizieller Bundesratskandidat ist Albert Rösti heuer ein gefragter Mann. Die rund 150 anwesenden Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft lauschten gespannt, als Rösti die anwesenden willkommen hiess und es ihnen verdankte, dass sie trotz des herrlichen Herbstwetters den Weg nach Thun auf sich nahmen. Nach einer schwungvollen Eröffnungsrede übergab Rösti Mathias Binswanger, Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Nordwestschweiz, das Wort.
Aussichten für 2023: Keine Panik!
Inflation, Energieknappheit, Fachkräftemangel: Die aktuellen Herausforderungen für die Wirtschaft sind laut Binswanger nicht neu – und auch bei weitem nicht so dramatisch, wie in den Medien oft suggeriert werde. Hinsichtlich Inflation sei die Schweiz weit entfernt von einem Horrorszenario, die Prognose des SECO für 2023 liegt bei 2,3 Prozent. Wie gut es uns damit gehe, zeige schon nur ein Blick in unsere Nachbarländer: Für Europäer wäre die Schweizer Inflation ein Segen, in der Eurozone kletterte diese gegenüber dem Vorjahresmonat um satte 10 Prozent. Gründe für die geringere Inflation in der Schweiz macht Binswanger an vier Punkten fest: Schweizer Haushalte gäben im Verhältnis zum Einkommen nach wie vor weniger aus für Energie, die Zinserhöhungen der SNB dämpften die Inflation über den Einfluss auf den Wechselkurs und die SNB habe im Gegensatz zu den amerikanischen und europäischen Zentralbanken keine Staatsschulden durch Geldschöpfung gekauft. Und schliesslich verhinderten weniger strengere Massnahmen während der Corona-Pandemie, dass Hilfsmassnahmen ergriffen werden mussten, welche die Geldmenge stark ausdehnten, wie das sowohl in der EU als auch in den USA der Fall gewesen sei.
Der Fachkräftemangel ist teilweise hausgemacht
Eines der Hauptprobleme für den Fachkräftemange sieht Binswanger in der Akademisierung. Potenziell gute Praktiker würden zu mittelmässigen Akademikern ausgebildet, was wiederum dazu führe, dass das Niveau an den Unis durch Massenabfertigung weiter sinke. Ein Teufelskreis. Zur Lösung können auch die Unternehmen selbst beitragen: Man müsse den Lehrlingen ihren Berufsstolz zurückgeben, sagt Binswanger. Langfristige Perspektiven müssten aufgezeigt werden, zudem seien heute Arbeitsmodelle gefragt, welche mehr Flexibilität ermöglichten. Man müsse längerfristig sowieso wegkommen von starren Arbeitszeitmodellen, da es in vielen Berufen zunehmend fragwürdig sei, Arbeitszeit mit Leistung gleichzusetzen. Abschliessend wünschte sich Binswanger von der Schweiz mehr Optimismus, und, «dass wir das Glas nicht immer zu einem Zehntel als leer, sondern manchmal auch zu neun Zehntel als voll sehen!»
Schmelzende Gletscher und andere Herausforderungen
Auch bei ihnen sei der Fachkräftemangel akut, sagte Gian Marco Maier, Leiter Betrieb und Services der Kraftwerke Oberhasli AG, im zweiten Referat des Nachmittags. Daneben wären schmelzende Gletscher durch die Klimaerwärmung, volatile Strompreise sowie die Netzstabilität die aktuell grössten Herausforderungen der Grosswasserkraft. Zwar werde sich der Abfluss auf Grund von substantieller Abnahme von schmelzendem Gletschereis ändern, nicht aber die Jahresmenge, sondern nur die saisonale Verteilung, wie Maier beschwichtigte. Um jedoch das anfallende Wasser zum richtigen Zeitpunkt nutzen zu können, müssten zusätzliche Speichermöglichkeiten realisiert werden, damit auch die Netzstabilität durch Interventionsmöglichkeiten gewährleistet werden könne. Für die Umsetzung von wichtigen Projekten brauche es die nötigen raschen Bewilligungen, die Politik sei gefordert.
Kein Energieverbrauch ohne Nutzen
Wie den teilweise massiv steigenden Strompreisen am besten beizukommen sei, erläuterte Selina Davatz anschliessend mit wertvollen Erfahrungen aus ihrem Arbeitsalltag als Energieberaterin bei der Elektroplan Buchs & Grossen AG. Davatz betonte wiederholt die Wichtigkeit der Energieeffizienz: «Jede Kilowattstunde Energie, die nicht verbraucht wird, muss nicht produziert, transportiert und gespeichert werden.»
Im anschliessenden Podiumsgespräch wurden die Aussagen von Professor Mathias Binswanger rege diskutiert. Nationalrat Albert Rösti zeigte sich überzeugt, dass bei der prognostizierten Entwicklung des Energiebedarfs eine Ausweitung der Produktion nötig sei, da der Bedarf mit Investitionen in Energieeffizienz und Sparmassnahmen durch Betriebe und Haushaltung nicht gedeckt werden könnten. Selina Davatz unterstrich die Notwendigkeit, Energie effizienter zu nutzen und damit die Zunahme des Bedarfs wesentlich zu beeinflussen. Die Unternehmersicht in der Diskussionsrunde wurde durch Nicole Wenger, Vorsitzende der Geschäftsleitung der Wenger Fenster AG Wimmis, vertreten. Die aktuelle Situation bei den Fachkräften sei alarmierend und es brauche dringend mehr Nachwuchs und attraktive Rahmenbedingungen für Mitarbeitende. Auch Albert Rösti unterstrich die Wichtigkeit der Berufsbildung, da die Wirtschaft auf Arbeitskräfte mit Praxiserfahrungen angewiesen sei.
Den Wissensdurst für den Moment gestillt, liessen sich die Gäste die Chance nicht entgehen, beim anschliessenden Apéro mit Referenten, Unternehmerinnen und Politikern auszutauschen
und neue Kontakte zu knüpfen.